Holzminden (red). Haben sich die Kindergartenkinder verändert? Sind speziell auch nach Corona häufiger Verhaltensauffälligkeiten festzustellen, „was ist heute noch normal?“ Diesen und ähnlichen Fragen gingen verschiedene Referenten bei der vom Landkreis organisierten HOPP-Kinderfachtagung in der Georg-von-Langen Berufsbildende Schulen Holzminden nach. Mit rund 120 Teilnehmenden aus Kitas im ganzen Landkreis war die Veranstaltung hervorragend gut besucht. Kein Wunder, denn die Arbeit in den Kitas ist in den letzten Jahren schwieriger geworden, unter den betreuten Kinder sind häufiger Verhaltensauffälligkeiten zu finden. Diese Netzwerktagung versuchte Mut zu machen, ohne die Probleme unter den Tisch zu kehren.
Die aktuellen Entwicklungen stellen auch die pädagogischen Fachkräfte zunehmend vor Herausforderungen. Die jüngsten Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes zeigten unter anderem einen zunehmenden Trend von Auffälligkeiten bei dem „Fragebogen zu Stärken und Schwächen“ (SDQ) des Kindes, einem Parameter für die Beurteilung des Verhaltens. Es sei daher wichtig, unterstützende Fördermöglichkeiten für Kindern früh zu erkennen, um zielgerichtete Angebote zu ermöglichen, machte Dr. Doris Thieme-Thörel, Gesundheitsamtsleiterin des Landkreises Holzminden, bei ihrer Begrüßung in der Cafeteria der BBS gleich einleitend deutlich. Dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse keineswegs weit entfernt von der Alltagsrealität der Teilnehmenden ist, bestätigte im Anschluss Gastgeberin Jennifer Sturz, im Gesundheitsamt des Landkreises für Kinder- und Jugendgesundheit zuständig. Bei einer Kurzumfrage gleich zu Beginn der Veranstaltung hatte eine überwältigende Mehrheit der Anwesenden die Frage, ob in den letzten drei Jahren die Anzahl verhaltensauffälliger Kinder zugenommen habe, mit „Ja“ beantwortet.
Auch die Untersuchungen von Kindergartenkindern im Rahmen des seit 2017 vom Landkreis ins Leben gerufenen Holzmindener Präventionsprogramms „HOPP“ für Drei- bis Vierjährige bestätigen die bedenkliche Entwicklung. Fast jedes fünfte Kind zeigt demnach Verhaltensauffälligkeiten, die sich nicht nur durch übermäßig extrovertiertes, sondern auch durch besonders introvertiertes Verhalten wahrnehmen lassen. Die Anzahl therapiebedürftiger Kinder habe sich, so Sturz, seit 2021 sogar verdoppelt. In ihren anschließenden Ausführungen erklärte Sturz unter anderem, warum auch aus neurologischer Sicht das Thema Bindung gerade in der frühkindlichen Entwicklung eine so zentrale Rolle spielt, um so etwas zu verhindern. Nur über Beziehungen, die Liebe, Vertrautheit, Wertschätzung und ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelten, werde bei Kindern bis zum siebten Lebensjahr so etwas wie ein Gewissen und der Charakter geformt. „Nur wer Bindung erlebt hat, kann sie später auch leben“, erklärte Sturz.
Mit welchen Mitteln solche Bindung hergestellt werden kann, vermittelte wiederum Martin Pfeffer in unterhaltsamer Form. Pfeffer ist seit 40 Jahren beim Landkreis als Psychologe tätig, seit 20 Jahren ist er als Bereichsleiter unter anderem auch für die Erziehungsberatungsstelle zuständig. Pfeffer stellte grundsätzlich den Begriff verhaltensauffällig infrage, weil der ja nur eine Abweichung von der Normalität beschreibe, die ja selbst nur durch einen gesellschaftlichen Zeitgeist geprägt sei. Aber auch Pfeffer sieht bei abweichendem Verhalten in der Regel das Problem im familiären Umfeld und empfiehlt den pädagogischen Fachkräften Altbewährtes. „Hören Sie zu, geben Sie sowohl auf erwünschtes als auch auf unerwünschtes Verhalten eine Rückmeldung und versuchen Sie eine Beziehung zu dem Kind herzustellen“, appellierte er an die Teilnehmenden.
Dr. Dirk Dammann, Leiter der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Holzmindener Albert-Schweitzer-Therapeutikum schließlich plädierte für besonders schwierigen Fälle nicht den Begriff „Systemsprenger“, sondern „Systemprüfer“ zu verwenden. Dammann analysierte eingehend, was solche „Systemprüfer“ ausmacht, was die Pädagogen dabei tun und aus welchen Gründen Eltern überfordert werden. „Wenn wir es schaffen, handlungsfähig zu bleiben“, so sein Resümee, „dann haben die Kinder das Gefühl, sie werden ernstgenommen.“ Hauptsache, es gehe den Erzieher*innen gut, lautete Dammanns Eingangs- und Ausgangsthese, dann könnten die auch mit adäquaten Mitteln auf solche Prüfungen reagieren.
Was die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas im ganzen Landkreis an Unterstützung künftig noch mehr gebrauchen könnten, brachte die eingangs vorgenommene Umfrage übrigens auch schon auf den Punkt: Ein besserer Personalschlüssel und eine bessere Fachberatung durch Psychologen bzw. Fortbildungen wünschten sich die Teilnehmenden dafür. Die Veranstaltung war damit aufgrund ihrer vielfältigen Hinweise durchaus ein Anfang. Alles Weitere ist ein Auftrag für die Politik.
Fotos: Peter Drews/Georg Seeliger/Landkreis Holzminden