Holzminden (red). Ein sonnig milder Spätsommertag im Garten der Wohnungslosenhilfe im Stadtkern von Holzminden. Die Anlaufstelle für Menschen ohne festen Wohnsitz ist in einem historischen Gebäude in der Halbmondstraße 7 untergebracht. Wobei schon das Haus selbst alte Geschichten erzählt. Zum Beispiel von der alten Schlachterei Owel mit angeschlossenem Kühlraum. Inzwischen zu einem Beratungsraum umgebaut. Vom Garten aus schaut man auf architektonisch sehr verschiedene Häuser mit verborgen gelegenen Innenstadtgärten und hat immer die evangelische Luther-Kirche im Blick. Dieser Garten ist bei gutem Wetter ein Treffpunkt und zugleich Rückzugsraum für Wohnungslose.
Die beiden Sozialarbeiter Kerstin Winterboer und Yves Martin treffen sich hier an einem Nachmittag zu einem Gespräch mit dem ehemaligen Wohnungslosen, Holger Rosenbaum. Ein Austausch über den „Tag der Wohnungslosen“, der bundesweit jährlich am 11. september stattfindet, ist geplant. Und auch über die Erfahrungen von Holger Rosenbaum, der seit gut einem Jahr in einer eigenen Wohnung im nördlichen Teil des Kreises Holzminden lebt.
Kerstin Winterboer und Yves Martin nutzten den „Tag der Wohnungslosen“ für eine Aktion nahe ihres Arbeitsplatzes im Stadtkern, um auf die Probleme von Obdach- und Wohnungslosigkeit aufmerksam zu machen. Sie bauten bewusst keinen klassischen Infostand auf, sondern setzten sich mit Isomatte und Schlafsack direkt in die Fußgängerzone. Im Rückblick beschreiben sie ihre Gefühle als teilweise sehr irritierend. Denn sie wurden vom größten Teil des vorbei laufenden Publikums nicht als Sozialarbeiter wahrgenommen, sondern als selbst von Obdachlosigkeit Betroffene. Die meisten der Passanten schauten mit stolz erhobenen Kopf zur Seite und Gespräche kamen deshalb kaum zustande.
Kerstin Winterboer und Yves Martin wurden von den Vorbeilaufenden also größtenteils gemieden. Ihnen wurde die Situation der Obdachlosen, die sie betreuen, dadurch noch viel bewusster. Yves Martin wundert sich besonders, dass einige Menschen, die ihn aus anderen Lebenszusammenhängen kannten, ebenfalls vielleicht teilweise ziemlich unbewusst wegsahen.
Holger Rosenbaum merkt an, dass ihn diese Probleme selbst nicht betrafen, da er zwar zwischendurch in verschiedenen Obdachlosenheimen gelebt habe, aber niemals auf der Straße gewesen sei.
Martin und Winterboer sind sehr erfahrene Sozialarbeiter, arbeiten sie doch schon seit über einem Jahrzehnt bei der Wohnungslosenhilfe in Holzminden. Dabei ist es ihnen immer wieder wichtig, niemals abzustumpfen und jeden Menschen in seiner Individualität ganz bewusst wahrzunehmen und anzunehmen. Im letzten Jahr wurden 144 sehr unterschiedliche Menschen beraten. Rosenbaum bestätigt, dass auch er als Betroffener die Wohnungslosen sehr unterschiedlich wahrgenommen habe. Neben vielen Fällen, ja sicher den meisten Fällen, die Menschen durch schwere Krisen in diese Situation gebracht haben, gibt es immer wieder Betroffene, die ihre individuelle Freiheit außerhalb der bürgerlichen Strukturen suchen. Aber häufig kommen natürlich auch viele Gründe zusammen.
Rosenbaum selbst denkt, dass er eine gewisse Verantwortungslosigkeit, die er außerhalb jeder Strukturen leben konnte, durchaus genossen hat.
In der Beratungsstelle in Holzminden geben die Betroffenen den Takt vor, denn es geht um Hilfe zur Selbsthilfe und niemanden wird etwas aufgezwungen. Die Wohnungslosen entscheiden selbst, in welchen Bereichen sie Hilfe brauchen. Dabei verbreiten Winterboer und Martin eine ganz besondere Atmosphäre der Wertschätzung, sodass viele erfahrene Wohnungslose sie zu den besten Anlaufstellen Deutschlands zählen. Holger Rosenbaum bestätigt das gerne, denn nach einigen Anläufen landete er schließlich in Holzminden und fühlt sich dort so wohl und sicher wie noch in keiner Beratungsstelle zuvor. Er nimmt die Unterstützung von Kerstin Winterboer immer noch sehr gerne in Anspruch, obwohl er schon seit über einem Jahr wieder ein eigenes Dach über dem Kopf hat. „Ich entwickle mich noch immer viel weiter und das hat vor allem mit der Arbeit in der Beratungsstelle zu tun.“
Die Selbsterfahrungen der beiden Sozialarbeiter am „Tag der Wohnungslosenhilfe“ möchte er nicht überbewerten. „Ich finde es ganz natürlich, dass die Mehrheit der Gesellschaft sich diesen Problemen nicht stellen möchte und lieber in eine andere Richtung schaut. Das hat nicht nur und nicht in erster Linie mit dem politischen Zeitgeist zu tun.“
Er verweist auf Hermann Hesse und seinen Roman „Knulp“, der das Leben eines Landstreichers erzählt. Dort heißt es an einer Stelle: „Der Bürgerliche mag den Landstreicher nicht gerne sehen, gemahnt er ihn doch an die Vergänglichkeit und die Sterblichkeit von allem.“
„Dem haben die meisten Menschen noch nie wirklich ins Auge blicken wollen, und das wird sich wohl auch nicht ändern“, ist sich Rosenbaum ziemlich sicher.
Aber immer wieder gibt es auch zahlreiche Spenden für die Holzmindener Wohnungslosenhilfe, sowohl in Form von Geld als auch zum Beispiel durch Kleidung, Haushaltsartikel und sogar Marmeladen.
Das Gespräch der Drei am Nachmittag endet nun bald, mit dieser differenzierten Sicht der Dinge, in diesem so schönen Garten in der Innenstadt. Dort, wo eine ehemalige Wohnungslose gerade eine Kräuterecke angelegt hat und so einen großen Beitrag leistete, dass sich die Betroffenen weiterhin ein wenig geborgen fühlen in der Wohnungslosenhilfe von Holzminden.
Von Holger Rosenbaum* (ehemals wohnungslos)
*Der Name wurde geändert