Holzminden (r). Gemeinsam haben die berufsbildenden Schulen BBS Duderstadt und BBS Holzminden, das Institut für Lerndienstleistungen der TH Lübeck, die IHK Hannover, Duderstadt 2020 und das Zukunftszentrum Holzminden-Höxter an der HAWK zwei Jahre lang gefördert durch das Land Niedersachsen geforscht: Ihr Ziel war und ist es, die duale Berufsausbildung in ländlichen Räumen attraktiver zu machen. Das bedeutet, die Ausbildungen durch die mit Digitalisierung einhergehenden Anforderungen an die Berufe zu modernisieren, vor allem aber die Erreichbarkeit der Berufsschulen für Auszubildende in ländlichen Räumen zu verbessern und damit auch die Vielfalt der Ausbildung von Berufen in ländlichen Räumen zu erhalten. Zu den wichtigsten Ergebnissen des Forschungsprojekts gehören die Empfehlung, einen Verbund für digitale Lernszenarien in der beruflichen Bildung zu gründen, der Materialien entwickelt und außerdem der Aufbau einer professionellen IT-Infrastruktur.
Denn Auszubildende, berufsbildende Schulen und Betriebe in ländlichen Räumen seien zu oft gefangen in einem "Teufelskreis", so Marc Diederich von der IHK Hannover - Geschäftsstelle Hildesheim: „Schülerinnen und Schüler, die gerne eine Ausbildung in ihrer Heimatregion beginnen möchten, können ohne Führerschein und Auto die Mobilitätshemmnisse ländlicher Räume nicht immer überwinden. Sie entscheiden sich dann häufig für andere Berufe, einen anderen Standort oder eine gänzlich andere berufliche Perspektive. Für die berufsbildenden Schulen hat dies zur Folge, dass möglicherweise die erforderlichen Klassengrößen in einigen regional bedeutsamen Ausbildungsberufen nicht mehr erreicht werden können und dementsprechend Ausbildungsgänge vor Ort geschlossen werden müssen.
Eine standortfernere Beschulung von Ausbildungsgängen verstärkt diese Tendenz, da sie sowohl von Unternehmen als auch von Auszubildenden als zusätzliches Ausbildungshemmnis wahrgenommen wird. Unter Umständen können somit ganze Berufsfelder aus einer Region verschwinden, auf welche die heimische Wirtschaft vor dem Hintergrund der Fachkräftesicherung eigentlich dringend angewiesen ist.
Das Verbundprojekt zeigt nun konkrete Lösungsoptionen auf: HAWK-Professorin Dr. Alexandra Engel, Projektleiterin vom Zukunftszentrum Holzminden-Höxter (ZZHH), die das Projekt entwickelt und die begleitende Forschungsevaluation durchgeführt hat, empfiehlt die Gründung eines Verbunds für digitale Lernszenarien in der beruflichen Bildung. Denn das Nadelöhr zur Nutzung der Vorteile digitaler Lehre ist, dass derzeit noch nicht genügend curricular verankerte Materialien entwickelt und nutzbar sind.
Sobald die Lehrerinnen und Lehrer gute Lehrmaterialien in digitaler Form vorliegen haben, könnten Ausbildungsgänge so gestaltet werden, dass sich Präsenzphasen in der Schule mit Phasen digital organisierter Lehre abwechseln können. Das bedeutet, dass Auszubildende sich raumunabhängig zum Lernen auf Lernplattformen treffen: beispielsweise per Videokonferenz. Per Videoübertragung können auch Exkursionen in andere Betriebe organisiert werden, die im schulischen Alltag nicht besichtigt werden können, weil sie zu weit weg sind. Das Lernen selbst passiert im engen persönlichen Austausch, aber die Lernformen werden mit digitalen Lernszenarien vielfältiger.
Auszubildende im Beruf „Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel“ an den berufsbildenden Schulen Duderstadt und Holzminden konnten die vielfältigen Möglichkeiten digitaler Lehre mitentwickeln und testen. Ihr Urteil: positiv. Sie haben ihre Fähigkeiten in der professionellen Kommunikation, Präsentation aber auch im Schreiben verbessert, der berufliche Einsatz digitaler Medien ist geschulter. Sie schätzen die räumliche Flexibilität und können sich gut vorstellen, auch von zu Hause aus mehr zu lernen.
Den Lehrern der berufsbildenden Schulen ist es mit ihrer didaktischen Vielfalt in der Nutzung digitaler Medien sehr gut gelungen, die gegenseitige Hilfe der Schülerinnen und Schüler untereinander zu stärken. Das wiederum hat die Überzeugung der Schülerinnen und Schüler gestärkt, Themen wirklich durchdrungen zu haben: Sie sind stärker von ihrem Können überzeugt. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeuten digitale Lernszenarien durchaus einen zunächst höheren Vorbereitungsaufwand. Dafür können sie aber schneller erkennen, welche Schülerinnen und Schüler welche Themen beherrschen und sind in der Lage, differenziertere Aufgaben zu stellen.
Für die flächendeckende Sicherung der Vielfalt dualer Berufsausbildung in ländlichen Räumen haben digitale Lernszenarien den Nutzen, dass ca. ein Drittel der Lernzeiten durch digitale Verabredungen raumunabhängig stattfinden könnten. Das senkt die Mobilitätshemmnisse. Die Verständigung über gemeinsame Lernszenarien ist auch eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Schulen kooperieren können und vielleicht zukünftig auch standortübergreifend Beschulungsangebote initiieren. Und sie sind die Grundlage dafür, den an einigen Stellen auftretenden Fachlehrermangel zu kompensieren.+++
Aus Sicht von Schulleiterin Sabine Freese (Duderstadt) und Schulleiter Andreas Hölzchen (Holzminden) könnte und sollte es sofort weitergehen mit der Entwicklung digitaler Lernszenarien, sie werden die Initiative ergreifen und Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer organisieren. Um die Chancen, die digitale Lernszenarien für die Ausbildung in ländlichen Räumen bieten, nachhaltig und gut nutzen zu können, brauchen die Schulen jedoch an zwei Punkten Unterstützung, auch das geht aus den Forschungsergebnissen des Projekts hervor:
Sie brauchen einerseits eine professionelle IT-Infrastruktur, die ähnlich aufgebaut sein sollte wie Rechenzentren an Fachhochschulen mit entsprechend guter und finanzierter Breitbandanbindung, ausreichender Unterstützung im Rahmen der Administration und sie brauchen andererseits eine professionelle Lösung zur Entwicklung und Qualitätssicherung digitaler Lehrmaterialien. Hier empfiehlt das Projekt die Gründung eines Verbundes, wie ihn Fachhochschulen mit dem Verbund virtueller Fachhochschulen schon seit mehr als zwei Jahrzehnten betreiben.
Arne Welsch, der diesen Verbund seit Jahren begleitet und dessen Institut für Lerndienstleistungen an der TH Lübeck die Mediengestaltung und mediendidaktischen Konzepte im Modellprojekt entwickelt hat, weist darauf hin, dass Digitalisierung zukünftig den Zugang zu Wissen verändern wird: Urheber- und Nutzungsrechten kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu. Gerade für Schulen in ländlichen Räumen sei elementar, dass Wissen auch digital kostenfrei zugänglich bleibe und nicht durch hohe Lizenzgebühren privater Firmen zum Luxusgut werde. Welsch sieht hervorragende Chancen für die Gründung eines Verbundes, der dann professionell und durchaus bundesländerübergreifend digitales Lernmaterial entwickelt und zur Verfügung stellt. Das sei eine ressourcenschonende Vorgehensweise, die aber auch auf eine Startfinanzierung der Länder angewiesen sei.
Projektleiterin Prof. Dr. Alexandra Engel freut sich, dass die Ergebnisse des Modellprojekts in allen Landtagsfraktionen wahrgenommen wurden und auch Kultusminister Grant Hendrik Tonne das Projekt besucht hat. Die Handlungsempfehlungen werden in die politische Diskussion einfließen. Der Digitalpakt der Landesregierung könnte einen guten Rahmen bilden, die Potenziale digitaler Lernszenarien in der dualen Berufsausbildung vor allem in den ländlichen Räumen dauerhaft nutzbar zu machen.
Die Ergebnisse des Forschungs- und Entwicklungsprojekts sind öffentlich zugänglich: Auf einer digitalen Lernplattform sind Handlungsempfehlungen und Ergebnisse der Begleitforschung des Projekts publiziert. In einem sogenannten Screencast wird auch das Lernfeld präsentiert, das Lehrer der berufsbildenden Schulen Duderstadt und Holzminden entwickelt haben.
Vor allem aber soll sich diese Plattform weiterentwickeln: Schon jetzt sind dort wertvolle Tipps für digitale Lehre gesammelt, die Lehrerinnen und Lehrer nutzen können. Aber auch andere Projekte digitaler Lehre werden dort vorgestellt. Denn digitale Lehre macht niemand alleine und der Projektverbund hat bereits weitere Vorhaben im Auge: So möchte die berufsbildende Schule Holzminden gerne eine Zertifikatsfortbildung zur Nutzung von Onlinevertriebskanälen starten. Die BBS Duderstadt als Schwerpunktschule für Ausbildung im Handwerk arbeitet an der Entwicklung digitaler Bildungsangebote für diese Branchen.
http://das-zukunftszentrum.de/blendedlearning/
Foto: HAWK