Holzminden (r). Gemeinsam mit der Messiaskantorei Hannover (Einstudierung Guido Mürmann), mit internationalen Gesangssolisten sowie dem Göttinger Symphonie Orchester führte das Collegium Cantorum Holzminden am Samstag unter der bewährten Gesamtleitung von Wolfgang Tiemann bedeutende und geschichtlich relevante Werke von Igor Strawinsky und Michael Tippett in der Holzmindener Stadthalle auf.
Vor Konzertbeginn gab Friedhelm Bruns, Theaterpädagoge und Kirchenmusiker, eine grundlegende Einführung in das Hauptwerk des Abends: „A Child of our Time“. Dirigent Wolfgang Tiemann, von dem die umfangreichen Erläuterungen im Programmheft stammen, erinnerte geschichtsbewusst sowohl an das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, vor allem aber an den engen Zusammenhang des Oratoriums (entstanden 1939 – 1941) mit dem Pogrombeginn am 9. November vor 80 Jahren. Das Attentat des 17jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst von Rath am 7. November 1938 nutzten die Nationalsozialisten als willkommenen Vorwand für die „Reichskristallnacht“ und den nachfolgenden Genozid. All diese unsäglichen Ereignisse veranlassten Tippett zur Komposition seines Oratoriums, in dem Herschel Grynszpan zum anonymisierten „Child of our Time“ und damit zum Paradigma menschlicher Tragik wird.
Eröffnet wurde das Konzert mit dem „Funeral Song“ von Igor Strawinsky, einem Werk, das lange als verschollen galt, 2015 in Archiven entdeckt und unter Leitung von Valery Gergiev in St. Petersburg uraufgeführt wurde. Somit dürfte die Holzmindener Aufführung im weiteren Umfeld unserer Region eine beachtenswerte Premiere gewesen sein. Die Göttinger Symphoniker spielten die Musik, dem Gedenken von Strawinskys Lehrer Nicolai Rimskij-Korsakow zugedacht, mit großem Impetus, sensibler Dynamik und ergreifender Klanggestaltung. Die nachdenkliche Stimmung dieses Werkes diente zugleich als musikalische Hinführung zum Hauptwerk des Gedenkkonzertes. Michael Tippett (1905 – 1971) orientiert sich formal am Oratorienvorbild von Händels „Messias“. So gibt es auch in diesem modernen Werk Rezitative, Arien, höchst anspruchsvolle Turba-Chöre, Doppelchöre und ergreifende Choräle. Bei den Chorälen greift Tippett auf fünf bekannte Spirituals zurück, in denen sich einst die Sklaven mit den alttestamentarischen Israeliten im Ägyptischen und im Babylonischen Exil identifizierten. Eine historisch beziehungsreiche und angesichts der unsäglichen Pogrome aktuelle Implikation! Chöre, Solisten und Orchester wirkten bestens vorbereitet, zumal Tippetts Musik vielfältig die Grenzen der Tonalität tangiert und damit unglaublich adäquate Klangassoziationen zu den Texten entwickelt und damit intensive Emotionen anspricht. Insbesondere den Chorsängerinnen /Chorsängern merkte man die eigene Ergriffenheit spürbar an, die sich auch nachhaltig auf die Zuhörer übertrug. Zum Gelingen des Konzertes trugen maßgeblich auch die versierten und renommierten Gesangssolisten mit ihrer überzeugenden, stimmlichen Präsenz bei. Die internationale Konstellation der Solisten repräsentierte zugleich den umfassenden Friedensappell der Musik:
Jessica Muirhead, britisch-kanadische Sopranistin (Aalto-Theater Essen); Janina Hollich, Altistin aus Deutschland (Preisträgerin des Liedwettbewerbs Rhein-Ruhr); Stephen Chambers, neuseeländischer Tenor ( Landestheater Detmold); Rihards Millers, Bariton aus Lettland ( Lettische Nationaloper).
Die beeindruckten Zuhörer dankten mit lang anhaltendem Applaus und großem Respekt für ein mahnendes Gedenkkonzert, auch in Zeiten aufkeimender Populismus-Tendenzen. Daher sei auch im Sinne der gelungenen Aufführung jenen Einrichtungen gedankt, die dieses bedeutende Projekt mit engagierter Überzeugung unterstützt haben.
Foto: Hermann Knaup