Holzminden (r). Petra Rambacher wirkt sehr gepflegt. Die 58-Jährige trägt modische Kleidung und hat eine peppige Frisur. Bei ihr zu Hause herrscht Ordnung, wenn sie ihre Wohnung verlässt, kontrolliert sie noch einmal, ob auch alle Kissen auf dem Sofa ordentlich liegen. Das mag auf den ersten Blick vielleicht ein wenig schrullig erscheinen, Petra Rambacher braucht aber dieses Gefühl, dass ihre äußere Umgebung in Ordnung ist, weil die innere so lange in Schieflage war. Seit acht Jahren ist Petra R. in Kontakt mit dem sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises Holzminden. Eine Hilfe, die ihr nach eigenen Angaben fast mehr gebracht habe, als jede Therapie.
Der sozialpsychiatrische Dienst steht jedem mit Rat und Tat zur Verfügung, der eine psychische Krankheit hat oder von ihr bedroht ist. Eine Diagnose ist vorher nicht nötig und auch einer Überweisung bedarf es nicht. „Kommen kann hier wirklich jeder mit allem“, stellt Thorsten Thielke, der als Amtsarzt mit Schwerpunkt Psychiatrie das insgesamt sechsköpfige Team leitet, fest. „Wir filtern dann, ob sie hier richtig oder woanders besser aufgehoben sind.“ Der in der Böntalstraße 32 beheimatete Dienst ist eigentlich eine Durchlaufstation, weil er Menschen in einer Krise an die richtigen Stellen weitervermitteln soll. Weil im Landkreis aber bestimmte therapeutische Versorgungsangebote anders als in Ballungsgebieten eher Mangelware sind, gibt es für nicht wenige auch langfristigere Hilfe.
Petra Rambacher, deren Name für diesen Artikel verändert wurde, ist einer von 400 bis 500 Fällen, die Referentin Kerstin Kreter betreut. Wie viele es genau sind, kann die in Teilzeit beim sozialpsychiatrischen Dienst arbeitende Sozialpädagogin nur schwer beziffern. „Manche schleichen sich wieder aus, manche bleiben in der Dauerbetreuung, das kann man gar nicht so genau sagen“, erklärt sie. Rambacher gehört zu den Dauerbetreuten, auch wenn es manchmal monatelang keinen Kontakt gibt und sich die Situation der Holzmindenerin momentan deutlich gebessert zu haben scheint. Denn ihr Problem gilt als chronifiziert, sie ist mittlerweile dauerhaft berufsunfähig geschrieben. Ein eher seltenerer Fall, der auf die Vielzahl der Diagnosen von Petra Rambacher zurückzuführen ist.
Krankheitssymptome, die scheinbar ursachenlos auftraten, hatte sie schon seit ihrer Jugend. 30 Jahre lang schlug sie sich mit Angst- und Panikattacken herum, versuchte es immer mal wieder mit Psychotherapien, doch ein bahnbrechender Erfolg blieb aus. 2011 wurde sie dann das erste Mal über längere Zeit so krank, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie hatte Schmerzen von Kopf bis Fuß. Die Ärzte diagnostizierten Fibromyalgie bei ihr, organisch waren ansonsten keine Anzeichen einer sonstigen ernsthaften Erkrankung feststellbar. Ignorieren half nicht, weil der Schmerz unerträglich blieb und irgendwann auch noch so starkes Herzrasen verursachte, dass der Rettungsdienst sie ins Krankenhaus bringen musste. Die Signale ihres Körpers versetzten Petra Rambacher zusätzlich in Panik, die Folge waren Essstörungen, Schlaflosigkeit und mangelnde Konzentrationsfähigkeit. Alles Mögliche habe sie dagegen unternommen, schildert Rambacher ihren Leidensweg. Aber der Versuch, ins normale Arbeitsleben zurückzukehren, misslang. Immer häufiger musste sie mit dem Krankenwagen abgeholt werden.
2012 schließlich kam Petra R. für acht Wochen in die Psychiatrie nach Hildesheim, nachdem somatische Kliniken sie nicht mehr aufnehmen wollten und sie Selbstmordabsichten geäußert hatte. Der achtwöchige Aufenthalt Im Landeskrankenhaus half ein wenig, sie bekam Psychopharmaka und lernte wieder, einfache Aufgaben zu erledigen, wie etwa einkaufen zu gehen oder den Tisch zu decken. In der offenen Psychiatrie wies man sie auch auf den Sozialpsychiatrischen Dienst hin, den sie für eine weitere Begleitung nutzen könne. Was der sozialpsychiatrische Dienst anbietet, sind allerdings Entlastungsgespräche, keine richtigen Therapien. „Das sagen wir hier immer allen Betroffenen sofort“, stellt Kerstin Kreter klar, „wir sind Sozialarbeiter und keine Therapeuten.“ Man biete einen neutralen Boden. Das sei schon einmal enorm wichtig, weil dann auch der Blick auf die eigenen Probleme eine andere Perspektive bekomme.
Rund 1.500 Jahreskontakte verzeichnet der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises. Dafür stehen zwei Vollzeitstellen zur Verfügung. Das erscheint erst einmal wenig, zumal es unter Umständen zu Wartezeiten von sechs bis sieben Wochen bis zu einer Terminvergabe kommen kann. Im Vergleich zu den bis zu sechsmonatige Wartezeiten für einen Termin beim Psychiater oder Psychologen ist das jedoch eine gute Alternative.
Manche der Kontakte ziehen sich über einen richtig langen Zeitraum, andere sind nur von kurzer Dauer. „Und zu manchen bekommt man überhaupt gar keinen Kontakt“, sagt Kerstin Kreter. Es bleibe eben ein freiwilliges Angebot. Und melden könne sich schließlich jeder. Manchmal frage beispielsweise auch ein Nachbar an, weil nachts immer wieder Schreie zu hören seien. Oder die Schule bzw. der Arbeitgeber glaube einen Bedarf bei einer Person zu erkennen und frage deshalb an. Nicht selten auch meldeten sich Menschen, die in einer Lebenskrise steckten, weil sie sich von Kollegen und Vorgesetzten gemobbt fühlten.
Wenn die oder der Betroffene jedoch keine Hilfe möchte, ist ohne begründeten Verdacht für eine Gefährdung von sich selbst oder anderen kein weiteres Einschreiten des Dienstes möglich. „Menschen dürfen depressiv sein, Menschen dürfen auch Alkohol trinken“, schränkt Kreter ein, „das ist erst einmal kein Anlass, sofort tätig zu werden.“ Am Ende entscheide jeder selbst, ob er Hilfe in Anspruch nehmen wolle oder nicht.
Petra Rambacher jedenfalls empfindet die Besuche beim sozialpsychiatrischen Dienst hilfreicher als alle Therapien, die sie gemacht hat. Denn da sei im Einzelfall nicht nur einiges schief gelaufen, sie habe sich auch häufig zu stark bedrängt gefühlt, meint sie. „Aufgabe von Therapeuten ist es natürlich, an den Kern des Problems zu kommen“, versucht Kerstin Kreter das differenzierter zu erklären. Das aber sei vielleicht nicht in jedem Fall hilfreich, weil Traumata schon so alt seien, dass die Probleme nicht damit gelöst werden könnten. „Konkrete Verhaltensmaßregeln, damit das Trauma nicht so viel Raum gewinnt, können da manchmal mehr helfen.“
In Rambachers Fall liegen die Ursachen in einem jahrelangen sexuellen Missbrauch während ihrer Kindheit begründet, der nie richtig therapeutisch aufgearbeitet wurde. In ihrer Ehe baute ihr Mann 25 Jahre lang eine Schutzglocke um sie herum auf, indem er ihr alles abnahm und sie teilweise regelrecht betreute. „Ich habe nie etwas allein gemacht und bin wie eine Püppchen ängstlich neben ihm hergelaufen“, beschreibt sie ihre Situation. Das war zwar gut gemeint, schadete ihr aber auf Dauer mehr als es ihr nutzte. Sie lernte damit nur, das psychisch Unaushaltbare besonders gut vor anderen zu verstecken.
Foto: Sozialpsychatrischer Dienst