Hildesheim/Holzminden (r). Früher haben sie das Bild europäischer und nordafrikanischer Städte geprägt. Heute drohen sie durch Umweltschäden, Übermalungen oder Wärmedämmungen unterzugehen: die aus den Fassadenputzen gekratzten, meist monumentalen Sgraffito-Dekorationen.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie nahezu ausschließlich Fassaden zieren, zur Rezeption durch die Bürger im Stadtraum. Dies führte nicht zuletzt dazu, dass sie oftmals als Zeichen des gesellschaftlichen Status oder der Überzeugung ihrer Auftraggeber dienten. Bisweilen wurden sie auch als Träger verschiedener Botschaften bis hin zu Propaganda genutzt.
Um ihre Reste zu erhalten, gilt es nun, das Wissen um ihre Bedeutung für das Stadtbild und ihre Botschaften europaweit zu erforschen und die Problematiken der praktischen Restaurierung in den Griff zu bekommen.
Die vom Hornemann Institut der HAWK mit dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (NLD) im November 2017 gemeinsam veranstaltete Tagung „Sgraffito im Wandel. Materialien, Techniken, Themen und Erhaltung“ an der HAWK in Hildesheim war ein großer Schritt in diese Richtung. 125 Sgraffiti-Interessierte aus elf Ländern waren nach Hildesheim gereist: Restaurator/inn/en, Denkmalpfleger/innen, Architekt/inn/en und Kunstschaffende, darunter auch viele Studierende.
Mit der nun vorliegenden Dokumentation dieser Tagung legen die Veranstalter ein 288 Seiten starkes, mit 317 Abbildungen reich bebildertes Grundlagenwerk vor. Es ist ein erfolgreiches Beispiel einer Kooperation zwischen Hochschulen und Denkmalpflege in Europa.
Erstmalig publizieren Fachleute aus Europa und Israel gemeinsam zur Vielfalt der für Sgraffiti benutzten Materialien und Techniken, ausgewählten Motiven sowie zu den Maßnahmen für ihre Erhaltung. In der Zusammenschau beantworten die Autoren und Autorinnen aus Belgien, Deutschland, Polen, Österreich, der Schweiz, der Tschechischen Republik und Israel ein großes Spektrum von Fragen, die von kulturhistorischen Aspekten bis hin zu aktuellen Erhaltungsproblematiken der Sgraffito-Dekorationen reichen.
Zunächst wird das Tagungsthema umrissen (Angela Weyer). Es geht dann um das Vorkommen von Sgraffito in Europa und darüber hinaus (Rafael Ruiz Alonso), die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen und Techniken (Manfred Koller) sowie die Probleme bei ihrer Erhaltung (Kerstin Klein). Dem folgen Länder- oder Einzelbeispiele von der Renaissance bis zum späten 20. Jahrhundert aus den Heimatländern der Referent/inn/en, u. a. mit Überlegungen zur Entwicklung und Wiederentdeckung von Sgraffito (Thomas Danzl, Ulrich Fritz, Andreas Huth), neuen Forschungsergebnissen zu materialtechnischen Befunden (Zuzana Wichterlova), schwierigen Erhaltungsproblemen (Christiane Maier) und großflächigen Rekonstruktionsbestrebungen (Jan Vojtechovsky). Drei Vorträge widmen sich den Sgraffito-Dekorationen aus der Wiederaufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Anneli Ellesat, Anna Kriegseisen, Christoph Schaab). Roswitha Kaiser erläutert den denkmalpflegerischen Umgang mit Sgraffiti, die NS-Propaganda verbreiten.
Zusammen untermauern alle Beiträge die Mehrdeutigkeit des Tagungstitels „Sgraffito im Wandel“: Denn zum einen geht es um die Analyse des thematischen wie auch materiellen/technischen Wandels vom Mittelalter bis ins späte 20. Jahrhundert. Zum anderen wird auch der Wandel im Bestand der erhaltenen Sgraffito-Dekorationen thematisiert, den nahezu alle Beispiele durch spätere Erhaltungsmaßnahmen erfahren haben.
Indem herausragende Fallbeispiele, neue Forschungsergebnisse und unveröffentlichte Objekte vorgestellt werden, wird das Buch für Fachleute verschiedener Disziplinen von Bedeutung sein: Entscheidungsträger in der Denkmalpflege finden in dem Band Argumente für die kulturhistorische Bedeutung von Sgraffito-Dekorationen wie auch konkrete Lösungsansätze für gefährdete Beispiele. Kulturhistoriker erhalten neue Blickwinkel zur Entwicklungsgeschichte von Sgraffito in Europa, unter anderem zu ihren Anfängen in Italien und Spanien sowie zu ihrer technischen Weitentwicklung (einlagig, zweilagig, Mischtechniken und Ähnliches).
Der Tagungsband wird von Angela Weyer (HAWK) und Kerstin Klein (NLD) gemeinsam herausgegeben und erscheint in den Schriftenreihen ihrer beiden Institutionen: Schriften des Hornemann Instituts Band 19, Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 51. Beim Michael Imhof Verlag ist er für 39,90 Euro zu erwerben: ISBN 978-3-7319-0802-9.
Die Tagung markierte ein HAWK-Jubiläum, denn vor rund 30 Jahren starteten die ersten Studierenden ihr Restaurierungsstudium im Bereich Wandmalerei und Architekturoberfläche in Hildesheim. Die Publikation des Tagungsbandes fällt zusammen mit dem 20jährigen Bestehen des Hornemann Instituts der HAWK.
Die Abstracts der Vorträge finden Sie auf www.hornemann-institut.de/german/Sgraffito_Tagung.php
Foto: Cover des Tagungsbandes, aufbauend auf dem Tagungsplakat, gestaltet vom CI/CD Team der HAWK auf der Basis eines Fotos von Rafal Ruiz Alfonso