Holzminden (red). Rico* und Schule, das passte nicht zusammen. Egal ob Grund- Haupt- oder Förderschule: Überall fanden die Lehrer nicht in Ordnung, was er sagte oder tat. Und andersrum ging es ihm ganz genauso. Dass die brüchige und am Ende gescheiterte Schulkarriere des heute 20-Jährigen aus Stadtoldendorf kein perspektivloses Desaster ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, hat vor allem mit dem Schulvorbereitungskurs für Nicht-Schüler der Kreisvolkshochschule zu tun. Nach 15 Monaten hat Rico* einen Schulabschluss in der Tasche. Sein Wunsch, eine Ausbildung im medizinischen Bereich anzufangen, hat damit realistische Chancen.
Wohl kaum einer der Teilnehmenden jener Kurse, die schon seit 1982 mit Förderung des Landes Niedersachsen und des Landkreises Holzminden in der KVHS durchgeführt werden, glaubt ernsthaft, dass die vorher abgebrochene Schulausbildung nur unsensiblen Lehrer*innen und einem unflexiblen Schulsystem zu verdanken sind. In der Regel sind es ganz persönliche Probleme, wie schwierige familiäre Verhältnisse, Drogenkonsum oder psychosomatische Störungen, die ein Scheitern zur Folge haben. Das Aus in der Regelschule hätte ohne jede Möglichkeit, irgendeinen Abschluss nachzuholen, bittere Konsequenzen. Denn ohne Abschluss keine Ausbildung und ohne Ausbildung keine Berufsperspektive: Der Weg ins gesellschaftliche Abseits wäre vorprogrammiert.
Und das, obwohl teilweise erheblich mehr drin ist. Immer wieder sind unter den Absolvent*innen des KVHS-Kurses auch solche, die im Anschluss noch weitergehen, sogar das Abitur schaffen und anfangen zu studieren. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmenden erwirbt aufgrund der erworbenen Kenntnisse sowieso schon den Sekundarabschluss I. Das Lernen ist auch an der KVHS kein Selbstläufer. „Was wir hier machen, ist keine reine Wissensvermittlung.“, betont die bei der KVHS für den Kurs zuständige Pädagogin, Katharina König-Brittner, immer wieder fest. „Wir gehen gezielt auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmenden ein.“ Im Unterricht stehe stets die Verknüpfung mit dem Alltag im Vordergrund, um den Sinn des Lernens stärker zu verdeutlichen. Lernen zu lernen könnte man das verkürzt als zentrale Aufgabe nennen. Die notwendige Wissensvermittlung läuft dazu praktisch parallel.
König-Brittner hat einen ebenso fürsorglichen wie strengen Blick auf ihre Schützlinge. Wer sich bei dem Kurs anmeldet und Probleme mit Pünktlichkeit oder Anwesenheit hat, darf schon mit entsprechend nachfragenden Anrufen bzw. Feedbackgesprächen rechnen. In der Hauptsache jedoch geht es ihr darum, die Stärken aller Schüler*innen herauszuarbeiten. Denn die sind häufig genug in der Vergangenheit aus dem Blickfeld geraten oder gar nicht erst erkannt worden.
Rico* beispielsweise war in ganz vielen Schulen unbequem. Mit Lehrern und mit Mitschülern gab es immer Auseinandersetzungen. Bei all den Konflikten gerieten seine Fähigkeiten komplett aus dem Blickfeld. In der Prüfung zum Hauptschulabschluss hat er in Biologie jetzt eine Eins gemacht, während der mündlichen Prüfung hat er zum Thema Impfung die ganze Tafel vollgeschrieben. Kaum jemand habe vorher darauf geachtet, was Rico* eigentlich gut könne, unterstreicht Katharina König-Brittner. Die intensive Betreuung Ricos* im Team mit der sozialpädagogischen Fachkraft Kristin Hinrichs habe sich gelohnt, ist die Kursleiterin überzeugt. Der Erfolg macht zumindest Hoffnung auf eine berufliche Zukunft, die vom schulischen wie auch vom familiären Umfeld schon längst aufgegeben worden war.
Was bei Rico* gar nicht erst erwartet wurde, galt bei Daniel als uneingelöstes Versprechen. „Der könnte mehr, wenn er wollte“, zog sich als Beurteilung durch dessen schulische Karriere. Schon in der Grundschule machte er keine Hausaufgaben mehr, testete früh Drogen aus, schaffte immerhin aber mit Ach und Krach noch seinen Hauptschulabschluss. Eine anschließende Ausbildung als Lagerlogistiker drohte wegen seiner Schulaversion und seines zunehmenden Konsums fast zu scheitern.
Dabei wirkt der heute 27-Jährige im Gespräch eher so, als habe er gerade seinen Bachelorabschluss geschafft und nicht den Sekundarabschluss I. Reflektiert und redegewandt beschreibt Daniel seine eigene Ziellosigkeit, das Hineinrutschen in eine Drogenkarriere, die Kehrtwende mit einer Therapie und schließlich der erfolgreiche Abschluss nach dem KVHS-Kurs. Für jemanden wie ihn hat der KVHS-Schulvorbereitungskurs viel mehr bewirkt, als nur einen besseren Abschluss und damit eine bessere berufliche Perspektive zu erreichen. Er hat gelernt, seine Erwartungen an das Gegebene anzupassen. Die unterschiedlichen Lernstände der einzelnen Teilnehmenden seien für Ihn eine Herausforderung gewesen, da er weniger Lernschleifen benötigt habe als andere, ist Daniels Fazit nach dem Schulvorbereitungskurs. Um dann schließlich doch zu erkennen: „Ich habe hier viel Spaß gehabt, rückblickend war der Kurs eine große Bereicherung für mich, weil ich die Notwendigkeit hatte, mich mit den anderen auseinanderzusetzen.“
Foto: Peter Drews, Landkreis Holzminden
*Ricos Name wurde auf seinen Wunsch hin geändert