Holzminden (red). Der Film „Systemsprenger“ fand in den Feuilletonseiten der Presse viel Beachtung. Und auch, was Preise betrifft, kam das Erstlingswerk von Regisseurin Nora Fingerscheidt nicht zu kurz. Doch während Kulturrezensent*innen sich an der grandiosen schauspielerischen Leistung der neunjährigen Hauptdarstellerin oder der Qualität der intensiven Bildsprache der Regisseurin abarbeiteten, blieb das Kernthema auf der Strecke: Wie kann man schwierigen Fällen wie der im Film dargestellten neunjährigen Benni selbst und den immer häufiger an ihre Grenzen stoßenden Fallbetreuerinnen helfen? Das Jugendamt des Landkreises Holzminden hat den Film Politkern und betroffenen institutionell Beteiligten im Roxy gezeigt und anschließend eine Podiumsdiskussion organisiert.
Warum man auf die Idee gekommen sei, einen solchen Film vorzuführen, machte in seinem Grußwort zur Veranstaltung Landrat Michael Schünemann deutlich. Die Zahl derjenigen Kinder und Jugendlichen, die Hilfe und Unterstützung bedürften, habe in den letzten Jahren deutlich zugenommen, erklärte Schünemann dem Publikum im vollbesetzten Saal des Kinos. Das habe das Jugendamt des Landkreises finanziell und personell an seine Belastungsgrenzen gebracht.
Der vorgeführte Film schildert nicht nur den Leidensweg des neunjährigen Mädchens zwischen wechselnden Pflegefamilien, Heimen, Aufenthalten in der Psychiatrie und erfolglosen Teilnahmen an Anti-Aggressions-Trainings. Er beschreibt auch das zeitlich aufwändige und emotional mitnehmende Scheitern der Pädagog*innen. „Der Mensch denkt Bildern – diese Bilder beeindrucken“, hatte der Bereichsleiter für besondere Soziale Dienste im Jugendamt, Wolfgang Kossmann, deshalb gleich eingangs zu der Veranstaltung nicht zu Unrecht betont. Nun sind Systemsprenger, also Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihrer besonderen Verhaltensauffälligkeit nur schwer in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Behindertenhilfe integriert werden können, nicht die Regel. Im Landkreis Holzminden gibt es derzeit insgesamt fünf. Doch dass diese Extremfälle nur die Spitze des Eisbergs sind und darüber hinaus über jedes Maß hinaus auch psychisch beanspruchen, zeigte die Podiumsdiskussion im Anschluss der Vorführung. „Wir haben nicht mehr das Gefühl, durchatmen zu können“, beschrieb eine Mitarbeiterin des Jugendamtes die Situation, einen Jugendlichen wie Benni betreuen zu müssen. „Wir arbeiten von 7.00 Uhr morgens bis 19.00 Uhr abends. Und wenn der Junge dann nicht mehr unterzubringen ist, sitzt er bei uns im Auto.“ Ein Bild, das Tanja Arzeus, Leiterin der Kinderheimat Neuhaus, und Dr. Dirk Dammann, medizinischer Leiter des Holzmindener Albert Schweitzer Therapeutikums nur bestätigen konnten. Letzterer deutete an, dass die Situation sich nach einer Gesetzesnovellierung noch einmal verschärfen werde, weil Kliniken wie das AST dann über das vorhandene Platzkontingent hinaus keine Fälle mehr aufnehmen dürften.
Trotz Burn-out-Szenarien und nur wenig Hoffnung machender Perspektiven blieb am Ende der von der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises, Sigrun Brünig, geleiteten Diskussion nicht nur Ratlosigkeit übrig. Die Veranstaltung diente allen Beteiligten dazu, sich ihrer besseren Dialogbereitschaft für die Zukunft zu versichern, mehrere anwesende Kreispolitiker bedankten sich überdies ausdrücklich für die umfassende Verdeutlichung der Situation. Darin, dass Prävention langfristig überhaupt die einzige Lösung sei, um Fälle wie den im Film beschriebenen zu verhindern, waren sich alle Anwesenden am Ende sowieso einig. Ilona Feyer-Yurttas vom Bereich Frühe Hilfen bracht das auf den Punkt: „Was das Kind eigentlich braucht, ist eine starke selbstbewusste Mutter, die eine starke Bindung gibt.“
Foto: Landkreis Holzminden