Stadtoldendorf (kp). Lea war ein gutes Jahr alt, als bei ihr das Rett-Syndrom diagnostiziert wurde. Seitdem ist sie eine Gefangene im eigenen Körper. Jetzt sind die Eltern einen Schritt gegangen, der in Deutschland noch weitgehend unbekannt ist, ihrem behinderten Kind aber die bestmögliche Versorgung im häuslichen Umfeld gewährleisten soll. Unser Redakteur, Kai Pöhl, hat Lea und ihre Eltern in Stadtoldendorf besucht und über diesen nicht ganz gewöhnlichen Donnerstagvormittag im Hause Wuttke berichtet. Mehr hier:
Im ersten Moment sieht alles so aus wie ein ganz normales Kinderzimmer. Im Mittelpunkt steht das Kinderbett. Es ist mit „Bibi und Tina“-Bettwäsche bezogen und nimmt einen großen Teil des Raumes ein. Einige Zentimeter über dem Bett hängt ein Foto an der Wand. Stolze Eltern blicken auf ein gesundes, neugeborenes Baby. „Das war vier Tage nach Leas Geburt“, sagt Daniel Wuttke. Er ist der Vater von Lea. Auf der angrenzenden Wand zum Fußende des Bettes erstreckt sich eine Art Familienstammbaum, der mit bunten Farben und weiteren Fotos im Kinderzimmer verewigt wurde. Im Kinderbett selbst kommt auf der rechten Seite unter dem Kopfkissen ein Beatmungsbeutel zum Vorschein. Damit bricht das heile Bild. „Der ist lebensnotwendig“, sagt Daniel Wuttke. Wenn es bei Lea wieder mal zu einem Atemstillstand kommt, dient er zur manuellen Beatmung, damit sie nicht stirbt.
Lea kann nicht sprechen, gehen oder selbstständig essen
Lea war ein gutes Jahr alt, als bei ihr das Rett-Syndrom diagnostiziert wurde. Seitdem ist sie eine Gefangene im eigenen Körper. Dem Rett-Syndrom liegt ein Gendefekt zugrunde. Es handelt sich um eine Form des Autismus, die mit schweren, körperlichen Behinderungen einhergeht und meistens unvorhersehbar in früher Kindheit auftritt. Sehr oft stellt sich später auch noch eine Epilepsie ein. Betroffen sind meistens Mädchen. Die mittlerweile neunjährige Lea kann nicht sprechen, gehen, sie kann nicht selbstständig essen oder sitzen und wenn nach einem epileptischen Anfall ein Atemstillstand eintreten sollte, ist sie auf die dringende Hilfe von speziell ausgebildeten Pflegekräften angewiesen. Lea ist fast seit ihrer Geburt eine Intensivpflege-Patientin. Sie braucht eine 24-Stunden-Betreuung.
In den ersten Lebensmonaten entwickelte sie sich noch normal. Sie lernte zu spielen, zu greifen und stand kurz davor, ihre ersten Wörter zu sprechen. Als sie plötzlich anfing, sich ihre Haare büschelweise auszureißen, merkten ihre Eltern, dass etwas nicht stimmt. Und mit dem Fortschreiten dieser seltenen Krankheit verlor sie schließlich nach und nach ihre erlernten Fähigkeiten. Seither ist Lea auf ständige Hilfe angewiesen. Der Stammbaum an der Zimmerwand ist kein gewöhnlicher. Neben Familienmitgliedern sind hier vor allem auch Pflegekräfte zu sehen, die Lea in den vergangenen Jahren intensiv betreut haben. Manche sind mittlerweile zur „Familie“ geworden.
Auf einem Foto ist sie mit ihrer großen Schwester zu sehen. Celina ist 19 Jahre alt und völlig gesund. Das verantwortliche Gen, das Lea nicht so normal wie ihre Schwester aufwachsen lässt, heißt MECP2. Bei einem Gentest wurde bei Lea eine Mutation festgestellt, damit war die Diagnose sicher. Auf dem Foto sieht man Celina in einem Nichtschwimmerbecken hinter ihrer kleinen Schwester stehen. Sie hält sie fest im Arm. „Sie kommt wirklich sehr gut mit Leas Krankheit klar“, sagt Daniel Wuttke. Und fügt dann hinzu: „Viel besser als ich.“
Das „Puffelmobil“: Wenn aus einem Privathaushalt eine Firma wird
Dieser Tag, an dem ich die Familie Wuttke in Stadtoldendorf besuche, ist kein gewöhnlicher Donnerstagvormittag. In der Wohnstube befinden sich mehr Menschen als sonst und auf dem Wohnzimmertisch liegen ein Ordner und kleinere Papierstapel rum. Zwar ist Lea der Grund für die Zusammenkunft, doch die Aufmerksamkeit ist an diesem Morgen auf eine andere Person gerichtet. „Es ist immer etwas schwierig, wenn man aus einem Privathaushalt eine Firma macht“, sagt Ilka Martin. Die Diplom-Sozialpädagogin und Budgetassistentin ist an diesem Morgen extra aus Oldenburg angereist, um Familie Wuttke bei den nächsten Schritten zu begleiten, nachdem gemeinsam das „persönliche Budget“ für Lea beantragt und vor wenigen Tagen von der Krankenkasse genehmigt wurde. „Das ist immer so unheimlich viel Papierkram“, fügt sie an.
Das „persönliche Budget“ ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Der Gedanke dahinter ist jedoch simpel: Das persönliche Budget soll Menschen mit Behinderung bei der Gestaltung eines selbstbestimmten Lebensalltags unterstützen. Es stellt eine Alternative zur traditionellen Sachleistung, wie zum Beispiel dem betreuten Wohnen, dar. Seit 2008 besteht laut Bundesteilhabegesetz ein Anspruch darauf. Durch die vom Kostenträger monatlich zur Verfügung gestellten Geldleistungen können intensivpflegebedürftige Menschen somit ihre Reha- und Teilhabeleistungen selbst einkaufen. In Leas Fall trägt die Krankenkasse die Kosten.
„Die Familie bekommt jetzt eine Betriebsnummer, eine Lohnsteuernummer und wird von nun an als Firma geführt“, erklärt Ilka Martin. „Lea ist jetzt sozusagen die Chefin des Puffelmobils“, sagt Andrea Wuttke. Sie ist die Mutter von Lea und wird auch ihre gesetzliche „Firmenverantwortliche“ sein. Sie und ihr Mann seien froh, dass es endlich auf diesem Weg geklappt hat. Seit ihre Tochter vor einigen Jahren die Diagnose Rett-Syndrom bekam, stehen sie nach wie vor unter Schock. „Es ist einfach schwer zu begreifen“, sagt Andrea Wuttke. „Ich habe mich ständig gefragt, warum es gerade Lea treffen musste.“
Umso glücklicher sei man nun, dass sie durch das persönliche Budget die Möglichkeit bekommen, die Betreuung für Lea im häuslichen Rahmen gewährleisten zu können. „Wir möchten Lea so lange wie möglich hier bei uns versorgen“, sagen sie.
„Puffelmobil“, so soll die Firma heißen. „Puffel ist Leas Spitzname“, klärt der Vater auf. Als Baby Lea eines Tages in ihrer Wiege in der Stube lag, lief im Fernsehen „Die Konferenz der Tiere“. In einer Szene soll das Erdmännchen zu seiner aufgebrachten Freundin gegangen sein und gesagt haben: „Alles tutti, Puffel?“ „Ganz einfach, seitdem ist Lea auch unser Puffel“ fügt der Vater hinzu.
„Lea bekommt alles um sich herum mit“
Mit am Tisch sitzen auch Michaela Müller, Petra Harms und Alina Bitter. Alle drei waren zuvor bei einem Pflegedienst angestellt und betreuen Lea schon seit längerer Zeit. Jetzt haben sie ihrem alten Arbeitgeber gekündigt, um ausschließlich für die kleine Tochter von Andrea und Daniel arbeiten zu können. „Zwischen uns allen hat sich mittlerweile eine richtig familiäre Atmosphäre eingestellt“, sagt Andrea Wuttke.
Michaela, Petra und Alina sind an diesem Morgen zusammengekommen, um ihre Arbeitsverträge zu unterschreiben und den Dienstablauf für die kommenden Tage zu besprechen. Da Lea eine 24-Stunden-Betreuung braucht, teilen sie sich in Früh-Spät- und Nachtschicht auf. Ab dem 1. März sind sie offiziell Arbeitnehmer von Leas Firma. „Wir freuen uns, dass es geklappt hat und jetzt endlich losgehen kann“, sagen sie. Es heißt, Lea suche sich ihre Leute selbst aus. „Sie bekommt alles um sich herum mit“, sagt Alina. Man wisse ofort, mit wem sie einverstanden ist und mit wem nicht.
Seit dreieinhalb Jahren kommt Alina fast jeden Tag aus Hannover angereist, um sich um die Neunjährige zu kümmern. Vor einiger Zeit hat sie in der Landeshauptstadt ein Studium begonnen. Da die beiden eine ganz besondere Bindung zueinander aufgebaut haben, wird Alina auch in Zukunft die Teamleitung übernehmen. Während am Wohnzimmertisch der Dienstplan für die kommenden Wochen durchgegangen wird, sitzt Lea auf Alinas Schoß. Gemeinsam wippen sie vor und zurück. Aus dem Handy tönt das Lied „Sweet but Psycho“. Lea scheint sich wohl zu fühlen, obwohl es so aussieht, als würde sie krampfen. „Sie freut sich“, versichert die Mutter.
Bevor Alina sie aus dem Therapiestuhl genommen und zu sich aufs Sofa holte, begann Lea unaufhörlich mit den Zähnen zu knirschen. Für Menschen mit Rett-Syndrom ist das Zähneknirschen eine typische Begleiterscheinung. Manchmal macht sie es auch, wenn sie nachts wach im Bett liegt. „Das hört sich dann so an, als würde sie permanent versuchen, eine Weinflasche zu entkorken“, erzählt die Mutter.
Bald wird Lea mit ihrer halb geballten Faust an ihr Ohr tippen. Es sind diese kleinen Gesten, die sie sich angeeignet hat, um mit ihrer Familie und ihren Betreuerinnen zu kommunizieren. „Das kurze Tippen an ihr Ohr bedeutet, dass sie müde ist“, weiß Alina und legt sie aufs Sofa. Sobald Lea beginnt einzuschlafen, wird auch das Zähneknirschen weniger. Dann hört es ganz auf.
„Es ist einfach schön, hier zu arbeiten“
Auf der Eingangsseite des Kinderzimmers ist eine Überwachungskamera angebracht, die diagonal auf das Kopfende des Kinderbettes gerichtet ist. Wenn Lea nachts schläft, müssen die Eltern oder die Pflegekraft das Geschehen im Kinderzimmer stets im Blick haben. Lea könnte wieder einen epileptischen Anfall bekommen und wenn anschließend die Atmung aussetzt, wird es lebensbedrohlich. Dass Lea nach einem Anfall wiederbelebt werden musste, ist in jüngster Zeit glücklicherweise nicht mehr vorgekommen. In unmittelbarer Nähe des Bettes befindet sich Medizin, die die Epilepsie einschränken soll.
Dennoch müssen Michaela, Petra und Alina immer auf den schlimmsten Fall vorbereitet sein. „Es ist dann immer sehr emotional, auch wenn man versucht, sich darauf vorzubereiten“, sagt Alina. „Es ist immer schlimm, ein Kind leiden zu sehen“, fügt sie hinzu. Doch genau solche Situationen sind es, die einen noch enger zusammenschweißen. Lea als Patientin und ihre Eltern sind der Hauptgrund, warum sie das alles machen. „Es ist einfach schön, hier zu arbeiten“, sagt die Teamleiterin. Auch Alina wurde im Familienstammbaum an der Wand im Kinderzimmer verewigt. Zu sehen ist, wie sie Lea einen Kuss auf die Wange gibt. Die Neunjährige hat ihre Augen geschlossen und ihre Mundwinkel ausgebreitet. Es ist, als würde sie lachen.
Fotos: Kai Pöhl
Anmerkung der Redaktion: Nach dem Besuch unseres Redakteurs hat eine vierte Pflegekraft einen Arbeitsvertrag für das „Puffelmobil“ unterschrieben. Isabel Will stößt somit ganz frisch ins Betreuungsteam.
Zudem ist Familie Wuttke auf der Suche nach größerem Wohnraum. Dringend benötigen sie ein größeres Badezimmer. Zudem wohnen sie mit Lea derzeit im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Im Idealfall findet sich eine Wohnung im Erdgeschoss. Familie Wuttke würde zudem gern in Stadtoldendorf wohnen bleiben. Melden kann man sich unter