Silberborn im Solling (rus). Rentiere im Solling? Vor sehr langer Zeit waren Rentiere hier wohl tatsächlich einmal heimisch, das war allerdings bis zum Ende der letzten Eiszeit. Dann folgten die Tiere dem Eis und sind heute nur noch in nördlichen Regionen in freier Wildbahn zu finden. In der Steinzeit wurden sie massiv gejagt und waren deshalb in weiten Teilen Europas nicht mehr vorhanden. Auch heute geht die Population stetig zurück – schon in einem Dutzend Jahren könnte es, im schlimmsten Fall, keine freien Rentiere mehr auf der Erde geben. Rund fünf Millionen Tiere gibt es noch in Europa, aber nur wenige davon in freier Wildbahn. Es gibt weniger natürliche Flächen und auch der Klimawandel sowie die Industrialisierung sorgen dafür, dass Wanderwege durchschnitten, Futtergründe rar und der Lebensraum immer kleiner wird. Umso bedeutender ist der Schutz dieser inzwischen stark bedrohten Tiere.
Auf rund 2,5 Hektaren Fläche leben in Silberborn und damit mitten im Solling aktuell zehn Rentiere, unter ihnen sechs Weibchen und vier Bullen. Damit hat jedes Tier rund 1.800 Quadratmeter Platz, sich frei zu bewegen. Untergebracht in Zoos und Tierparks gibt es aktuell nur rund 150 Rentiere in ganz Deutschland. Zwischen 12 und 15 Jahre alt können sie werden, das älteste Exemplar in Silberborn ist sogar schon 16 Jahre alt.
Wildguide Axel Winter betreut die Rentiere
Betreut werden die Rentiere von Axel Winter und seinem kleinen Team. Winter war schon immer ein Outdoor-begeisterter. „Es hat mich schon immer nach Draußen gezogen“, sagt er. Und genau aus diesem Grund hat er sich auch für eine Ausbildung zum Trekkingguide und Wildnisführer entschieden. Daneben ist er auch Wildnis,- Erlebnis,- und Umweltpädagoge, hat den Sicherheitstrainerschein für Hochseilgärten und auch die Jägerprüfung und Falknerschein absolviert. Die Natur ist also buchstäblich Winters Wohnzimmer: „Wenn ich in der stillen Weite der Natur bin und über die Ferne der Gipfel schaue, fühle ich mich zuhause“, sagt er. „Dieses einmalige Gefühl möchte ich jedem mit Hilfe meines qualifizierten Teams ermöglichen, der es selbst einmal erleben mag“, so Winter. Bei Rentiertrekkings und Touren mit Schlittenhunden, den Huskys, verbindet er mit seinem Team einzigartige Tier- und Naturerlebnisse, die er in Silberborn anbietet. Für Geburtstage, Jubiläen und mehr stehen er und sein Team zur Verfügung. Ursprünglich war die Haltung von Rentieren aber fast nur ein Zufall. „Die ersten Tiere hatten wir seinerzeit aus schlechter Haltung geholt, dann kam schließlich alles ins Rollen“, erinnert sich Winter.
Dass Rentiere etwas ganz Besonderes sind, durfte Winter schnell feststellen. Rentiere sind genügsam und sehr sozial, sie leben meist in Familien von 20 bis 100 und sogar mehr Tieren. Dabei hat jeder seine feste Aufgabe in der Sippe. Angeführt werden sie meist vom ältesten Tier, während die immer gleichen Tiere in der Mitte laufen. Die ältesten und schwächsten laufen am Rand, weil sie ohnehin leichte Beute wären, während die agileren Tiere und auch die Weibchen eher in der Mitte zu finden sind.
Ein ganz besonderes Fell
Rentiere haben ein ganz besonderes, dichtes Fell, ausgestattet mit Haaren, die wie kleine Röhren funktionieren, in denen Luft eingeschlossen ist. Dadurch sind sie auch bei minus 40 Grad noch sehr gut geschützt und empfinden kaum Kälte. Das Fell wirkt wie eine Isolierung rund herum, auch im Sommer macht sich dieser Effekt positiv bemerkbar. Zugleich sorgt es auch dafür, dass Rentiere besonders gute Schwimmer sind. „Die Luft im Fell wirkt wie eine Art Schwimmweste“, erklärt Winter, sodass die Rentiere durchaus auch mehrere Kilometer schwimmend zurücklegen können. Die Farbe des Fells ist verschieden und reicht von schneeweiß bis fast schwarz, im Winter ist es aber generell heller, im Sommer für wenige Monate dunkler.
Bis zu 22kg schwer kann das Geweih werden
Eine weitere Besonderheit sind aber auch die Geweihe, bei den Rentieren tragen auch die Weiblichen eines auf dem Kopf. Es ist auch das größte Geweih in der Tierwelt im Vergleich zu den Proportionen des Körpers und kann bei Männchen bis zu stolzen 22kg schwer sein, bei den Weibchen sind es „nur“ bis zu drei Kilogramm. Aktuell ist Brunftzeit, der Hirsch trägt dafür ein besonders großes Geweih, welches er aber zum Ende der Brunft abwirft. „Das Geweih zur Brunftzeit ist nur Show und für Bullenkämpfe, es soll eine reine Machtdemonstration der Tiere sein“, erklärt der Wildguide. Das Geweih setzt den Rentieren aber auch besonders zu. „Während des Wachstums wird sehr viel Energie verbraucht und in den Aufbau des Geweihs investiert“, weiß Winter. Das Geweih ist zudem im Wachstum mit Blutgefäßen ausgestattet, bei einer Verletzung kann das schwere Folgen haben. Insbesondere zur Wachstumszeit ist das Geweih noch "weich", sodass es mitunter auch vorkommen kann, dass sich Teile davon auch verbiegen, wenn die Tiere damit an Ästen oder Bäumen stoßen.
Rentiere sind stets lange Wanderschaft gewohnt, bis zu 5.000 Kilometer pro Jahr legen sie zurück. „Die Rentiere wollen sich bewegen, das ist ein Zwang“, erklärt Winter. Ein Überbleibsel aus der Vorzeit, als die Tiere stetig auf Nahrungssuche gehen mussten. Während im Frühjahr die sogenannten Kälbergründe für die Geburt des Nachwuchses gesucht werden, wanderten die Tiere früher aus wärmeren Regionen insbesondere gegen den Wind ab, um auch den vielen Stechmücken zu entgehen.
Zu fressen gibt es für die Tiere in Silberborn Trockenfutter in Form von Pellets und vor allem getrockneten Flechten, die zumindest für die Haltung hier in Deutschland extra aus Schweden importiert werden. Flechten wachsen auch nur dort – sie benötigen reine Luft und Ruhe, schließlich brauchen sie bis zu 50 Jahre, bis sie ausreichend groß ist. Rund ein dreiviertel Jahr ernähren sich die Rentiere davon, während sie im Sommer fast alles fressen, was grün ist. Doch nicht jede Nahrung ist für die Rentiere geeignet, Axel Winter warnt vor den Folgen, die sogar tödlich enden können. „Kekse, Brötchen oder Kuchen sind für die Tiere als Futtermittel absolut tabu“, erklärt er.
Rentierwanderung und mehr: Zahlreiche Aktivitäten werden angeboten
Wer sich für Rentiere oder Huskys interessiert, für den hat Axel Winter mit seinem Team jederzeit ein offenes Ohr. Zwar sind die Tiere keine Streicheltiere und sollen es auch nicht sein, Interessierte haben aber die Möglichkeit, beispielsweise bei einer Fütterung dabei zu sein und sogar eine Patenschaft für eines der Tiere zu übernehmen. „Damit helfen Sie uns, die Tiere hier weiterhin gut halten zu können und dürfen sie auch jederzeit nach Absprache besuchen“, sagt Winter. Besondere Veranstaltungen, wie beispielsweise einen Ausflug mit den Schlittenhunden und Rentiertrekkings durch den Solling sind ganzjährig möglich.
Fotos: rus, Axel Winter, Jürgen Börris