Holzminden (red). Gerade im Zusammenhang mit den aktuellen Schulschließungen wird viel über Bildungsbenachteiligung gesprochen. Doch auch bei den Kleinsten in den Krippen und Kindertagestätten ist der Einfluss von Kitaschließungen, Quarantäne und Notbetreuung teils dramatisch. Besonders im Bereich der Sprachbildung werden in diesen frühen Jahren die Grundsteine für eine erfolgreiche Schulkarriere gelegt. Eine HAWK-Studie beleuchtet nun, wie Erzieherinnen und Erzieher die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf die Sprachbildung erleben. Die Ergebnisse zeigen, dass gerade benachteiligte und mehrsprachige Kinder durch Kitaschließungen Rückschritte in ihrer Entwicklung machen.
Karin Schäfer studiert an der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit im Studiengang Kindheitspädagogik. Für eine Projektarbeit hat sie, gemeinsam mit Studiengangskoordinator Prof. Dr. Tim Rohrmann und in Zusammenarbeit mit dem Dialogwerk Braunschweig, 78 Betreuungseinrichtungen zu Sprachentwicklung und Sprachförderung in der Corona-Zeit befragt. Die Idee zu der Online-Umfrage entstand in einem Kooperationsseminar mit der Hochschule Emden/Leer. Gemeinsam mit drei weiteren Studentinnen beider Hochschulen entwickelte Schäfer die Idee zu einem Fragebogen mit dem Thema Sprachbildung. Über die Hochschulen, das Dialogwerk Braunschweig und das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) konnte der Fragebogen an Kitas in ganz Niedersachsen verteilt werden.
„Für mich war das sehr spannend, weil die sprachliche Entwicklung in der Pandemie bisher in der Forschung noch nicht direkt in den Blick genommen wurde“, erklärt die Studentin. „Es wird zurzeit immer wieder betont, wie wichtig Kitas für die Entwicklung von Kindern sind, insbesondere für die Sprachförderung“, ergänzt Rohrmann. „Aber darüber, wie sich die Schließungen auf die Sprachentwicklung auswirken, wissen wir bislang kaum etwas.“ Darum habe er sich entschlossen, Schäfers Projekt zu unterstützen und gemeinsam mit ihr die Befragung zu konzipieren und durchzuführen.
In den Ergebnissen wird deutlich, dass besonders mehrsprachige Kinder unter den Bedingungen der Corona-Pandemie leiden. Die Fachkräfte berichteten in der Umfrage, dass viele der Kinder nicht in der Lage seien, ihre Deutschkenntnisse nach einer Schließungszeit wieder abzurufen. Sie könnten beispielsweise keine vollständigen Sätze mehr bilden oder verständigten sich sogar nur noch mit Einwortsätzen. „Generell wurde von vielen Fachkräften eine rückläufige Sprachentwicklung beschrieben“, berichtet Karin Schäfer. „Gerade bei mehrsprachigen Kindern ist die Situation schwierig.“
Besonders auffällig sei in diesem Zusammenhang auch, dass viele Fachkräfte für die Förderung mehrsprachiger Kinder nicht ausreichend vorbereitet seien. Nur ein Drittel der Befragten fühlt sich für diese Herausforderungen angemessen qualifiziert. Das sei vor allem deshalb bemerkenswert, so Schäfer, da sich besonders Betreuungseinrichtungen an der Befragung beteiligt hätten, die sich im Bereich der Sprachförderung ohnehin schon sehr engagierten.
So überrascht es aber auch nicht, dass viele der befragten Kindertagesstätten auch in der Pandemie neue Sprachförderangebote konzipieren und umsetzen. Und diese lassen sich offenbar besonders in den Notbetreuungsgruppen besser als sonst umsetzten. „In normalen Zeiten ist die Umsetzung guter Sprachförderung aufgrund der Gruppengröße oft schwierig. In der Zeit der Notbetreuung war der Fachkraft-Kind-Schlüssel dagegen besser“, erklärt Schäfer. So könne auch Sprachförderung in den Kitas in der Notbetreuung manchmal besser funktionieren als sonst.
Und auch darüber hinaus hatte die Pandemie teilweise offenbar sogar positive Effekte auf die Sprachentwicklung von Kindern. Einige Fachkräfte vermuteten, dass die zusätzliche Zeit mit den Eltern und das vermehrte Erzählen und Lesen zu Hause diese Effekte bewirkt hätten. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, insgesamt sowohl negative als auch positive Effekte der Pandemie zu beobachten.
Für Rohrmann ist dieses Ergebnis nur auf den ersten Blick überraschend: „Das ist eine Beobachtung, die wir auch in anderen Bereichen machen. Ohnehin vorhandene Differenzen in der Entwicklung der Kinder werden in dieser schwierigen Situation verstärkt.“ Vereinfacht heißt das: Kinder, mit deutschsprachigen Hintergrund und engagierten Eltern profitieren von der zusätzlichen Zeit zu Hause. Dagegen haben Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen oder kaum gefördert werden, in der Pandemie das Nachsehen.
Vor allem mache die Befragung deutlich, woran es in Kinderbetreuungseinrichtung momentan noch fehle, so Rohrmann. „Wir brauchen unbedingt qualifiziertes Fachpersonal und gute Unterstützungsstrukturen für Weiterbildung und Coaching.“ Der Entwurf des neuen Kindertagesstättengesetzes (KitaG) biete in diesem Bereich wenig Grund zur Hoffnung, kritisiert der Erziehungswissenschaftler. „Es muss viel mehr in Qualität investiert werden, nicht nur in Betreuungsstunden. Die jetzigen Maßnahmen reichen nicht aus und die Folgen werden wir langfristig zu spüren bekommen.“